Die Herausforderung: Auftragsgutachten von BU-Versicherern
Persönlich empfinde ich es immer als sehr frustrierend, wenn Berufsunfähigkeitsversicherungen offenkundig berechtigte Ansprüche ihrer Versicherten mit dem Hinweis auf ein angeblich „wissenschaftliches“ Gutachten abgelehnen.
Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie so oft – dieses Gutachten (a) vom Versicherer bezahlt wurde und (b) im Widerspruch zu den Einschätzungen aller anderen behandelnden Fachärzte steht (im Regelfall vertritt nämlich ausschließlich der von der Versicherung beauftragte Gutachter die Ansicht, dass keine krankheitsbedingten Einschränkungen bestehen und somit natürlich auch keine Leistungen erbracht werden können).
In einem solchen Fall konnte ich erneut eine wichtige Entscheidung für Erkrankte aus dem psychiatrischen Formenkreis erreichen – allerdings erst sage und schreibe 3,5 (!) Jahre nach Leistungsablehnung, die meine Mandantin tapfer durchgehalten hat.
Der Fall
Meine Mandantin wandte sich im Oktober 2021 an mich, weil Ihre BU-Versicherung die von ihr beantragten Leistungen wegen einer depressiven Erkrankung vollständig ablehnte.
Beruflich war sie in einer Führungsposition auf einer interdisziplinären Intensivüberwachungsstation der Charité tätig und konnte ihren anspruchsvollen und unter hohem zeitlichem Druck zu bewältigenden Aufgaben, die aufgrund externer Ereignisse ständig wechselnden Priorisierungen unterlagen, wegen der körperlichen und kognitiven Symptomatik nicht mehr gerecht werden.
Die deshalb beantragten BU-Leistungen lehnte der Versicherer mit dem lapidaren Hinweis ab, dass zwar sämtliche der meine Mandantin behandelnde Ärzte auf Nachfrage eine mindestens 50%ige Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit bestätigt hätten (dies löst in der privaten BU-Versicherung Leistungen aus), allerdings seien diese ärztlich attestierten (!) Leistungseinschränkungen für sie, die Versicherung, „nicht nachvollziehbar“.
Nachdem ich die medizinischen Befunde und – vor allem – die ausgesprochen verantwortungsvollen Aufgaben der Stelle bei der Charité durchgearbeitet hatte, war mir klar, dass bei dem konkret vorliegenden Stadium der Depression ohne jeglichen Zweifel Berufungsunfähigkeit vorlag, und zwar seit geraumer Zeit.
Als ich diese Einschätzung meiner Mandantin im Rahmen der bei mir üblichen kostenfreien Ersteinschätzung mitteilte, erteilte sie mir das Mandat und ich wies ihren BU-Versicherer auf die Rechtslage hin:
- Maßstab für die Einschätzung der krankheitsbedingten Leistungsbeeinträchtigungen ist die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit und zwar in ihrer ganz konkreten Ausgestaltung.
- Die somit für die Prüfung allein maßgebliche (Leitungs-)Position auf einer interdisziplinären pädiatrischen Intensivüberwachungsstation mit insgesamt zehn Betten erfordert ein Höchstmaß an Fokus, Belastbarkeit und die Fähigkeit, jederzeit auf wechselnde Priorisieren zu reagieren – dies alles wohlgemerkt immer in dem vollen Bewusstsein, dass kleinste Fehler (etwa bei der Arzneimittelaufbereitung etc.) über Leben und Tod der Patienten entscheiden können.
- Angesichts der ärztlich attestierten Beeinträchtigungen bei meiner Mandantin waren Tätigkeiten wie das Vorbereitungen von Infusionen, das Management von Medikation, Diagnostik und Blutabnahmen im Rahmen der Visite sowie die Assistenz bei Notfällen und/oder geplanten operativen Eingriffen nicht ansatzweise mehr möglich. Dies bestätigten auch sämtliche der vorliegenden fachärztlichen Einschätzungen, unter anderem die tagesklinischen Bewertungen der Asklepios-Klinik. Vor Gericht hätte die Leistungsablehnung des Versicherers daher voraussichtlich ohnehin keinen Bestand:
Gleichwohl hielt der BU-Versicherer ohne vertiefte Prüfung an seiner Ablehnung fest und teilte mir mit, dass – trotz einer Vielzahl anderslautender Arztberichte – eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung „nach den bisherigen Unterlagen nicht nachgewiesen“ sei:
Das Verfahren
Ich erhob also zügig Klage vor dem zuständigen Landgericht Berlin II, um eine rechtsverbindliche Überprüfung der angeblich so „wissenschaftlichen“ Bewertung des BU-Versicherers zu erreichen.
Der sich dann anschließende Rechtsstreit erstreckte sich insgesamt über einen Zeitraum von drei Kalenderjahren, weil die von der Versicherung beauftragte Kanzlei – lehrbuchmäßig – jegliche der bekannten Verzögerungstaktiken einsetzte:
- Die von mir beantragte medizinische Begutachtung vor dem ersten Verhandlungstermin bestätigte das von mir erwartete Ergebniss einer vollständigen Berufsunfähigkeit seit geraumer Zeit:
- Trotz der in seiner Eindeutigkeit fast schon zurechtweisenden Einschätzung des vom Gericht beauftragten Chefarztes musste die Versicherung natürlich noch ein Ergänzungsgutachten beantragen, in welchem (aus meiner Sicht mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogene) Kritikpunkte an der Begutachtung eingegangen werden sollte. Wie zu erwarten, fiel auch die ergänzende gutachterliche Stellungnahme recht eindeutig zugunsten meiner Mandantin aus:
- Auch hier folgte natürlich noch eine umfangreiche Stellungnahme der von der Versicherung beauftragten Anwälte, nach welcher diese ergänzende gutachterliche Bewertung ebenfalls unzutreffend sein sollte.
- Nach einem weiteren halben Jahr war dann endlich der große Tag der mündlichen Verhandlung, in welcher das Gericht mit recht eindeutigen Worten klarstellte, dass die von mir eingeklagten Leistungsansprüche bestehen, und zwar sowohl für die Vergangenheit, als auch für die Zukunft.
Da ich vorsorglich nicht nur die psychiatrischen Beeinträchtigungen, sondern überdies Leistungseinschränkungen aus dem orthopädischen Bereich geltend gemacht hatte, hätte nunmehr – im März 2025, knapp drei (!) Jahre nach Klageeingang – noch ein weiteres Sachverständigengutachten über eben diese orthopädischen Beeinträchtigungen beauftragt werden müssen.
Dies hätte den Rechtsstreit mindestens noch um ein weiteres Kalenderjahr verlängert, obwohl meine Mandantin bereits jetzt am Ende ihrer Kräfte (und Liquiditätsreserven) war.
Da wir selbst bei vollem Sieg bis zum Ende der Vertragslaufzeit lediglich 38.000,- € mehr hätten erzielen können, haben wir uns dann auf einen Betrag von 100.000,- € geeinigt, der dann umgehend ausgezahlt wurde.
Fazit
„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“: Aus unternehmerischer Sicht mag es verständlich sein, dass man als von einer großen Versicherung beauftragter Arzt (oder als Gutachteninstitut mit entsprechendem Kosten- und Umsatzdruck) dazu neigt, die Auffassung seines Auftraggebers („keine Berufsunfähigkeit“) zu bestätigen.
Gerade bei Beurteilungs- und Ermessensspielräumen wird man sich deshalb nicht selten – bewusst oder unbewusst – von dessen Interessen leiten lassen.
Wie aber dieser Fall sehr schön zeigt, muss man solche „Gutachten“ auch nicht allzu ernst nehmen:
Es ist völlig unproblematisch, die teilweise recht abenteuerlichen Einschätzungen der von den Versicherungen beauftragten Gutachter durch einen – nicht von (Folge-)Aufträgen aus der Versicherungswirtschaft abhängigen – gerichtlich beauftragten Sachverständigen rechtsverbindlich überprüfen zu lassen,
Angesichts der erheblichen Arbeitsüberlastungen von Gerichten und Gutachtern – vor allem in Großstädten wie in Berlin – erstrecken sich derartige Verfahren, die zwingend eine medizinisch-sachverständige Bewertung erfordern, mittlerweile allerdings über mehrere Kalenderjahre – eine Zeitspanne, die bei krankheitsbedingter Beeinträchtigung und einhergehendem Einkommensausfall erst einmal überwunden werden muss.
Umso schöner ist dann allerdings ein „Happy End“ ….