Die Bedeutung von naturheilkundlichen und komplementärmedizinischen Verfahren nimmt weiter zu. Ursache ist zum einen der sich ausweitende Bereich chronischer Erkrankungen (in dem die herkömmliche Akutmedizin oft nur bedingt mit langfristigen Lösungen aufwarten kann), zum anderen die voranschreitende Individualisierung der Medizin. Mit der zunehmenden Individualisierung von Behandlungsstrategien wiederum ist zwangsläufig auch ein Abweichen von der jeweiligen Standardbehandlung verbunden. Denn das Eingehen auf den individuellen Organismus des Patienten verträgt sich nur bedingt mit den auf einen fiktiven Durchschnittspatienten zugeschnittenen Vorgaben der Leitlinien.
Ein Abweichen von den jeweiligen Leitlinien wiederum ist zwar als Ausfluss der Therapiefreiheit ohne Weiteres zulässig (und teilweise sogar haftungsrechtlich geboten). Gleichwohl birgt das Verlassen des (S3-)Korridors rechtliche Gefahren, für welche die Behandler – nur in den seltensten Fällen juristisch geschult – oft nicht hinreichend sensibilisiert sind. Es spielt hierbei keine Rolle, ob von den Leitlinienstandards dergestalt abgewichen wird, dass sog „Außenseitermethoden“ wie Blutegel-Behandlung, Schröpfen oder Quaddelung zum Einsatz kommen oder ob auf sehr neue Verfahren aus dem Bereich der Hochleistungsmedizin zurückgegriffen wurde, wie beispielsweise auf bestimmte, individuell hergestellte Stammzellpräparate oder Gentherapeutika. Die juristische Gefährdung liegt allein im Abweichen an sich, und zwar unabhängig davon, ob das Verlassen des Leitlinienkorridors gleichsam rückwärtsgewandt erfolgt, im Sinne einer Besinnung auf alte Heilmethoden, die sich nicht durchsetzen konnten, oder vermeintlich fortschrittsorientiert motiviert ist, wie etwa bei der Implementation von Neulandmethoden aus dem Bereich der Hochleistungsmedizin.
Dieser Beitrag skizziert die zwei wichtigsten Maßnahmen zur Kontrolle der juristischen Gefahren bei einem Abweichen von der „Standardbehandlung“: Die konsequente wirtschaftliche Aufklärung des Patienten (I) und die Sicherung des eigenen Honoraranspruches (II). Eine besondere Bedeutung liegt darin, dass Fehler in diesem Bereich regelmäßig zu (hohen) Vermögensschäden führen, die nicht von dem Schutz der Berufshaftpflichtversicherung umfasst sind (III).
I. Die Pflicht zur „wirtschaftlichen“ Aufklärung des Patienten
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II. Die Sicherung des eigenen Gebührenanspruchs
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III. Achtung: Schadenpositionen oft nicht versichert!
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Resümee: Konsequenzen für die Praxis
Die gute Nachricht zum Schluss: Es handelt sich insgesamt um einen Bereich, bei dem das Risiko vergleichsweise hoher und nicht von der Berufshaftpflichtversicherung abgedeckter Vermögensschäden durch kostenneutrale und wenig aufwändige Maßnahmen weitestgehend eliminiert werden kann. Ausreichend für die umfassende Absicherung sind eine konsequente wirtschaftliche Aufklärung und eine vorsorgliche Dokumentation des Patientenwunsches, trotz möglicher Erstattungsprobleme behandelt zu werden:
a.
Vital ist zunächst eine konsequente wirtschaftliche Aufklärung in Gestalt eines Hinweises, dass die Kosten der potentiell (erstattungs-)streitbehafteten Leistung unter Umständen vom Krankenversicherer nicht in voller Höhe übernommen werden. Ein solcher allgemein gehaltener Hinweis („wird unter Umstnden nicht in voller Höhe erstattet“) ist von der Rechtsprechung als ausreichend angesehen worden. Die Aufklärung sollte vorsorglich mittels eines entsprechenden Formulars dokumentiert werden. Mit diesem Hinweis hat der Arzt die ihm aus dem Behandlungsvertrag obliegende (Neben-)Pflicht zur wirtschaftlichen Aufklärung erfüllt, sodass er später nicht mehr mit den Kosten eines vom Patienten verlorenen Erstattungsrechtsstreites belangt werden kann.
Teilweise wird von den Ärzten eingewendet, ein derartiger Hinweis schrecke Neuzugänge ab und könne dazu führen, dass die Patienten – für etwaige Erstattungsprobleme sensibilisiert – die Behandlung unter Umständen gar nicht erst in Anspruch nähmen.
Dies mag zutreffen und teilweise auch Motiv für ein bewusstes Absehen von der wirtschaftlichen Aufklärung sein nach dem Motto „Es wird schon gutgehen“. Allerdings stehen die mit der unterlassenen Aufklärung eingegangen Risiken, später vom Patienten (oder seinen Erben) auf ein Vielfaches der liquidierten Behandlungskosten in Anspruch genommen zu werden, in keinem Verhältnis zu den – falls überhaupt eintretenden: überschaubaren – Umsatzausfällen infolge eines Hinweises auf eine (womögliche) Verweigerungshaltung des Krankenversicherers.
b.
Ferner gilt es, den eigenen Gebührenanspruch abzusichern.
Wie ausgeführt kann die für das Honorar statuierende medizinische Notwendigkeit prospektiv oft nicht sicher bestimmt werden; absolut steht sie erst mit dem rechtskräftigen Abschluss eines gerichtlichen Erstattungsprozesses gegen den Krankenversicherer fest. Das eigene Honorar kann deshalb nur dadurch „gerichtsfest“ abgesichert werden, dass – vorsorglich und nur für den Fall, dass sich Auffassung des Behandlers vom Vorliegen der medizinischen Notwendigkeit später als unzutreffend herausstellen sollte – der ausdrückliche Behandlungswunsch des Patienten dokumentiert wird. Dann handelt es sich nämlich um eine sog. Verlangensleistung gem. § 1 Abs. 2 S. 2 GO, deren Honorar auch im Falle einer fehlenden medizinischen Notwendigkeit nicht zurückverlangt werden kann.
Werden diese beiden – ohne Weiteres in die tägliche Praxis zu implementierenden – Hinweise beachtet, verbleibt das Beurteilungsrisiko im Vertragsverhältnis zwischen Patient und Krankenversicherer. Eine spätere Einordnung als medizinisch nicht notwendig kann dann weder zum nachträglichen Verlust des Gebührenanspruches führen noch kann der Behandler auf Ersatz der (hohen) Kosten des Erstattungsprozesses in Anspruch genommen werden.