Die Herausforderung
Der Nachweis einer Berufsunfähigkeit erfordert nicht nur die Darstellung der gesundheitlichen Symptome, sondern vor allem deren konkrete Auswirkungen auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Erst wenn Beeinträchtigungen im vertraglich vereinbarten Umfang vorliegen, gilt der Versicherungsfall als eingetreten.
Besonders anspruchsvoll ist dieser Nachweis bei psychischen Erkrankungen:
Anders als bei klar messbaren Krankheitsbildern – etwa Knochenbrüchen oder degenerativen Veränderungen – beruhen die Diagnosen hier fast ausschließlich auf den Schilderungen der betroffenen Person. Versicherer nutzen diesen „Spielraum“ häufig, indem sie eigene Gutachten einholen, die dann zu dem Ergebnis gelangen, die Einschränkungen seien „nicht objektivierbar“.
In einer solchen Konstellation konnte ich kürzlich eine weitere – wichtige – Entscheidung erstreiten
Der Fall
Mein Mandant, ein IT-Manager in leitender Funktion, entwickelte aufgrund erheblicher familiärer und beruflicher Belastungen eine stressinduzierte Depression.
Sowohl seine behandelnde Psychiaterin als auch ein Sachverständiger der Deutschen Rentenversicherung bescheinigten ihm ein vollständig aufgehobenes Leistungsvermögen.
Der von der Versicherung beauftragte Gutachter kam jedoch zu einem anderen Ergebnis:
Er attestierte meinem Mandanten eine Arbeitsfähigkeit von mehr als 50 % und stufte eindeutige Testergebnisse mit dem Hinweis auf angebliche „Aggravationstendenzen“ als nicht authentisch ein.
Das Verfahren
Nach Mandatierung wies ich den Versicherer auf die offensichtlichen Widersprüche hin – ohne Erfolg.
Trotz der offenkundigen Fehler hielt die Versicherung an ihrer Leistungsablehnung fest, sodass ich im Dezember 2021 Klage vor dem Landgericht Stuttgart einreichen musste.
Wie bei BU-Verfahren üblich, zog sich das Verfahren über mehrere Jahre:
- Im September 2022 (knapp ein Jahr (!) nach Klagezustellung) wurde immerhin der Beweisbeschluss erlassen.
- Das gerichtliche beauftragte Sachverständigengutachten wurde sodann im November des nächsten Kalenderjahres zugestellt.
Leider kam der gerichtlich bestellte Sachverständige in seiner schriftlichen Begutachtung zu dem Ergebnis, dass aufgrund bestimmter Widersprüche keine hinreichende Sicherheit gewonnen werden konnte, um die Frage der Berufsunfähigkeit valide bewerten zu können:
In einer solchen Konstellation ist der Rechtsstreit oft faktisch schon verloren, da es nur selten gelingt, einen Mediziner durch Befragung in der mündlichen Verhandlung zu einem von seiner schriftlichen Bewertung völlig abweichenden Ergebnis zu bewegen.
Da das Gutachten aber nun einmal in der Welt war, gab es keine Alternative zu einer entsprechenden Befragung des Gutachters, um das Ergebnis „keine Berufsunfähigkeit“ doch noch in unserem Sinne abändern zu können.
Demgemäß verfasste ich eine Vielzahl von Ergänzungsfragen und regte die Vernehmung der behandelnden Ärztin als Zeugin an (die Befragung der behandelnden Psychiater ist bei stressinduzierten Erkrankung oft deshalb so wichtig, weil diese – und nur diese – den Patienten über einen längeren Zeitraum beobachten und somit die sog. „Anknüpfungstatsachen“ bezeugen können).
Diese Taktik ging glücklicherweise auf, da der gerichtlich bestellte Sachverständige nach – mehrstündiger – Befragung der behandelnden Psychiaterin seine Einschätzung revidierte und zu einem diametral entgegengesetzten Ergebnis („vollständige Berufsunfähigkeit“) kam:
Das Ergebnis
Bei diesem Ergebnis der Beweisaufnahme hatte das Gericht keine andere Wahl, als die Berufsunfähigkeitsversicherung antragsgemäß zu verurteilen.
Anfang August 2025 – mehr als 3,5 Jahre nach Einreichung der Klage – wurde mir das entsprechende Urteil zugestellt:
Fazit
Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, dass es sich lohnt, gegenüber Versicherern standhaft zu bleiben und deren Auftragsgutachten gerichtlich überprüfen zu lassen.
Auch wenn sich Verfahren über Jahre hinziehen können, werden Versicherer im Erfolgsfall nicht nur zur rückwirkenden Zahlung, sondern auch zur Verzinsung verpflichtet – ein erheblicher finanzieller Vorteil für die Betroffenen.
Ebenso wichtig ist es, frühzeitig die behandelnden Fachärzte einzubeziehen und sie gegebenenfalls als Zeugen vor Gericht zu benennen.
Gerade bei psychischen Erkrankungen können nur diese die Entwicklung des Patienten über längere Zeiträume dokumentieren und die entscheidenden Anknüpfungstatsachen belegen.